Das Gegenüber verstehen

Jeder erlebt im Alltag unterschiedliche soziale Situationen – ob im Kollegenumfeld oder im Kundenkontakt. Gerade in schwierigen Situationen ist es wichtig, die Faktoren zu kennen, die unsere Reaktionen und Empfinden beeinflussen bzw. uns helfen, unser Gegenüber zu verstehen. Der folgende Beitrag zeigt u. a. an einem Beispiel, worauf es hierbei in der Praxis ankommt und liefert zudem wichtiges Hintergrundwissen.

von Nina Konopinski-Klein
15.02.2019

Kommunikation
© Foto: suchoa lertadipat / Getty Images / iStock
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Die Fallbeschreibung

Zum Jahresanfang fand in der Mohren-Apotheke eine Teambesprechung statt. Apothekenleiter Krause erläuterte die Jahresziele und die Relevanz positiver und langanhaltender Kundenkontakte. Abschließend betonte er die entscheidende Bedeutung der Präsentation der Ware, das Aussehen der Mitarbeiter und deren Kommunikationsformen, die für die Kundenbindung von Vorteil sind. Alles in allem herrschte bei dem Meeting eine gelassene, heitere Atmosphäre. Schließlich sind die Mitarbeiter nach der Weihnachtspause erholt und voll Tatendrang in die Offizin gekommen. Die mitgebrachten Weihnachtsplätzchen zum Resteessen haben zur guten Stimmung beigetragen.

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Nach der Besprechung fand Frau Meier die „kleine Bea“ – so wird die Auszubildende von Kollegen genannt – tränenüberströmt im Personalraum. Besorgt fragte sie nach dem Grund, und nach einer Weile sprudelte es aus ihr heraus: „Haben Sie das gemerkt? Schon wieder war Herr Krause so streng zu mir, als er über die Freundlichkeit und ordentliche Kleidung sprach, hat er mich angeschaut, ich bemühe mich doch so sehr, er mag mich nicht, Sie haben das doch gehört...“ .

Mit Gesprächen nachforschen

Erklärend hierzu: Herr Krause ist ein 55-jähriger, seriöser Apothekenleiter, der sich sehr selbstbewusst verhält, aber alle Mitarbeiter auf Augenhöhe behandelt. Ein langes Gespräch mit Bea brachte Frau Meier die Erklärung: Herr Krause erinnert die Auszubildende an ihren strengen Vater, und bei jeder Bemerkung, vor allem bei ermahnenden Hinweisen, fühlt sie sich angesprochen bzw. empfindet Schuldgefühle.

Die Konsequenzen

Frau Meier verstand die Situation der Kollegin, obwohl sie die Aussagen von Herrn Krause anders in Erinnerung hatte. Sie sprach mit ihr lange darüber und hoffte, ihr damit geholfen zu haben. Im Laufe des Gesprächs wurde ihr bewusst, wie schnell sie selbst dazu neigt, Situationen nicht objektiv wahrzunehmen. Sie beschloss, in Zukunft mehr darauf zu achten, Dinge objektiv zu betrachten und ihre Reaktionen nicht aufgrund von Empfindungen, sondern aufgrund von Tatsachen zu steuern.

Übrigens: Herr Krause hat diese Unterredung mitbekommen und gerührt von den Tränen der jungen Frau versprochen, künftig besonders umgänglich mit ihr vorzugehen.

Hintergrundwissen

In der Zusammenarbeit mit den Kollegen und in Kontakten mit Kunden erleben wir unterschiedliche soziale Situationen. Viele sind interessant, bereichernd oder nur neutral. Andere sind nicht immer von Freundlichkeit, Entgegenkommen und Kooperationsbereitschaft geprägt. Gerade in solchen, für alle  schwierigen Situationen ist es wichtig, die Faktoren zu kennen, die einen Einfluss auf unsere Reaktionen und unser Empfinden haben bzw. uns helfen, unser Gegenüber zu verstehen.

Denn: Alles, was Menschen als soziale Realität wahrnehmen, ist eine subjektive Konstruktion. Die gleiche Situation, das Erleben von gleichen Momenten wird von zwei Personen (die sich vielleicht sogar ähnlich sind und gleichen Bildungsstatus haben), anders empfunden und gewertet. Woran liegt das?

Wie werden Informationen verarbeitet?
  • sogenannten kognitiven Skripten – darunter versteht man im Langzeitgedächtnis gespeicherte Ereignisabfolgen (Drehbücher) für bestimmte Situationen (z.B. das Öffnen der Tür für ältere Kunden)
  • sowie sozialen Schemata – festgespeicherte Informationen und Meinungen, die in alltäglichen Situationen angewandt werden (z. B. automatisches Schließen der Medikamentenschublade nach der Entnahme von gewünschten Packungen)
  • im Laufe des Lebens erworbenen Regeln (abhängig von der Kultur, Familie, Umgebung)
  • sozialem Wissen – dazu zählen personenabhängige Stereotypen, Prototypen, Erfahrungen
  • der Einstellung zur eigenen Person, aber auch einer grundsätzlichen Einstellung zu anderen Personen.

Das Verhalten der Menschen wird zusätzlich von der jeweiligen Emotionalität und dem Temperament der jeweiligen Person sowie dem Grad ihrer Emotionsregulation beeinflusst.

Was bedeutet dies im geschilderten Fall?

Die Auszubildende in unserem Beispiel hat ein kognitives Skript aufgebaut: „Mein Papa war streng zu mir. Herr Krause sieht aus wie mein Papa bzw. ist im Alter von meinem Papa – d. h., wenn er schimpft oder ernster wird, meint er wahrscheinlich mich“ (kognitiver Skript, Einstellung zur eigenen Person). „Immer wenn mein Papa mit mir unzufrieden ist und ich mich betroffen fühle, helfen die Tränen“. Die Reaktion von Herrn Krause bestätigt diese Erfahrung, und so wird dieses erfolgreiche Verhalten also auch künftig eingesetzt.

Unser Beispiel soll zeigen, was die Reaktionen der Menschen in bestimmten Situationen beeinflusst.

Konkrete Beratungssituation

Bei jedem Kontakt mit dem Kunden wird der erste Eindruck über diese Person mittels einer automatischen Kategorisierung gebildet. Diese erfolgt auf Grundlage leicht beobachtbarer Merkmale: Geschlecht, Alter, Kleidungsstil, Sprache usw.

Stereotype hinterfragen

Diese automatische Kategorisierung führt zunächst zum damit verbundenen Assoziieren von stereotypischen Eigenschaften und beeinflusst unsere Reaktionen auf den Kunden. Beispiele: Ältere Menschen haben keine Ahnung vom Computer – daher lohnen sich keine Empfehlungen, im Internet etwas nachzulesen;  gut angezogene Frauen werden eher teure Kosmetika kaufen; Männer kaufen alles und schauen nicht auf den Preis bzw. Männer sind besonders preisbewusst usw.

Kontrolliert Informationen verarbeiten

Ist dem Apothekenmitarbeiter bewusst geworden, dass er gerade dabei ist, eine Bestätigung seiner Stereotype zu finden, kann er durch eine kontrollierte Informationsverarbeitung gezielt auf die Kunden eingehen und ihre individuellen Merkmale und Eigenschaften wahrnehmen. Diese kontrollierte Informationsverarbeitung erfolgt nur, wenn eine entsprechende Motivation zum verantwortlichen Wahrnehmen des Anderen vorhanden ist.

Kundenmeinungen akzeptieren

Genauso ist es gut, sich auf die Meinungen der Kunden einzustellen. Feste Überzeugungen der Kunden (solange nicht gesundheitsschädlich) zu bestimmten Themen können sehr schlecht bzw. gar nicht korrigiert werden. Wozu auch: Ist eine ältere Dame überzeugt, dass ihr das Originalpräparat besser geholfen hat, ist es wenig sinnvoll, mit ihr über die Gleichwertigkeit eines Generikums zu diskutieren.

Vor kurzem hatte ich gerade das Gegenteil davon in einer Apotheke beobachtet: Eine Kundin legte ein Rezept für ein Originalpräparat vor, und die Apothekerin schlug ihr ein Generikum vor mit dem Argument: „Hier sparen Sie neun Euro, und die Wirkung ist gleich“. Die Einwände der Kundin, der Arzt wüsste doch was er verordnet, wurden missachtet.

Wahrnehmungskanäle im Gespräch nutzen

Neben der fachlichen Argumentationen im Gespräch (Stimme, Sprache, Inhalt) sind weitere Vermittlungsmedien sehr wichtig: unsere Augen, Ohren, die Zunge oder Haut. Die Eindrücke der Umwelt werden auch ohne Stimme verarbeitet und verstanden. Die Welt wird unbewusst über vier Kanäle wahrgenommen:

Vier Wahrnehmungskanäle

V – visuell – Sehen
A – auditiv –Hören
K – kinästhetisch – Fühlen
O – olfaktorisch – Riechen und Schmecken

Hören wir dem Kunden genau zu, können wir deutlich in entsprechenden Formulierungen Hinweise auf seine Wahrnehmungskanäle entdecken und darauf optimal reagieren.

Wahrnehmungskanal

Hinweise

in den Formulierungen

Optimale

Reaktionen

der

visuelle Typ

… das möchte ich gerne sehen

… da sehe ich noch Probleme

… ich sehe das ganz anders

… ich stelle mir das so vor

… ich habe ein bestimmtes Bild davon

… ich zeige es Ihnen gerne

… daraus ergibt sich folgende Vorstellung / folgendes Bild

… so können Sie das deutlich vor Augen haben

… damit können Sie sich sehen lassen

der

auditive Typ

… ich höre da eine Missstimmung

… das hört sich merkwürdig an

… mir ist etwas zu Ohren gekommen

… sie wird was von mir hören

… lassen Sie von sich hören

… das wird Musik in Ihren Ohren sein

… wie hört sich das an?

… wir sind im Einklang darüber

der kinästhetische

Typ

… ich habe ein komisches Gefühl

… ich fühle mich missverstanden

… das macht mir Angst

… dabei habe ich Bauchschmerzen

… ich kann Sie beruhigen

… Sie werden sich dabei sicher fühlen

… wie fühlt sich das an?

… wie empfinden Sie das?

… ich möchte, dass Sie sich dabei gut fühlen

der

olfaktorische Typ

… das stinkt mir aber

… das riecht nach einer Preiserhöhung

… es ist eine bittere Enttäuschung

… das schmeckt mir aber gar nicht

… wie kann ich Ihnen das Thema versüßen?

… da habe ich ein Leckerbissen für Sie

… das lassen wir uns auf der Zunge zergehen

… das Angebot wird Ihnen gut schmecken

Fazit

Erstellen Sie keine Annahmen über bestimmte Aussagen, wenn Sie nicht sicher sind, was der Kunde meint. Fragen Sie nach oder wiederholen mit eigenen Worten was Sie verstanden haben, etwa: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, glauben Sie..“, „Meinen Sie damit…?“

Die Autorin

Nina Konopinski-Klein ist Coach und Trainerin für Ärzte, Apotheker und weitere Mitarbeiter im Gesundheitswesen sowie Buchautorin (CCT-Coaching Consulting Training).

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