Das „Gespenst“, von dem Kinder niemandem erzählen dürfen
Sie fliegen meist unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung, und das, wie Fachleute glauben, aus gutem Grund: Kinder, die mit HIV infiziert sind, gibt es – auch in Deutschland. Ihre Fälle werden jedoch in der Regel in Kitas, Schulen und gegenüber anderen Familien geheim gehalten, um sie vor Ausgrenzung zu schützen. „Die Gesellschaft ist einfach noch nicht reif dafür“, erklärt Dr. Bernd Buchholz von der Universitätsmedizin Mannheim im Gespräch mit der Ärzte Zeitung. Der Pädiater und Kinderonkologe betreut bereits seit 1992 HIV-positive Kinder.
In Deutschland leben Buchholz zufolge aktuell etwa 400 HIV-infizierte Kinder, jährlich kommen etwa vier bis fünf neue Fälle hinzu. Wie die Studie GEPIC (GErman Cohort of Perinatally Infected Children) nachweist, sind HIV- Infektionen bei Kindern unter 15 Jahren fast ausschließlich auf Mutter-Kind-Übertragungen zurückzuführen. In der Studie hatte man 331 Fälle von HIV-positiven Kindern der Geburtenjahrgänge 1999 bis 2016 ausgewertet, die dem Robert Koch-Institut (RKI) bis Ende 2018 gemeldet wurden. Bei 313 von ihnen wurde eine Transmission von der Mutter auf ihr Kind als wahrscheinlichster Übertragungsweg angegeben.
Die Geschichten der Kinder ähneln sich: Die meisten haben sich zu einem Zeitpunkt, als die Viruslast bei der HIV-positiven Mutter nicht ausreichend medikamentös unterdrückt war, mit dem Immundefizienz-Virus infiziert. Also während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder beim Stillen.
Stillen mit HIV?
Auch wenn in Deutschland grundsätzlich davon abgeraten werde, würden HIV- positive Frauen zuweilen darauf bestehen, ihr Kind zu stillen. Die Gefahr liege darin, dass man oft nicht sicher sagen könne, ob sich in der Muttermilch noch replikationsfähiges Virus befinde, auch wenn bereits eine antiretrovirale Therapie (ART) bestehe. Die Medikamente müssten außerdem sehr regelmäßig eingenommen werden, um eine Transmission sicher zu verhindern – etwas, das angesichts von Stressphasen nach der Geburt und vielen schlaflosen Nächten nicht immer unproblematisch sei.
Buchholz plädiert in jedem Fall für einen zugewandten Umgang mit der Mutter: „Wenn man die Frauen ausgrenzt, kann es sein, dass sie heimlich stillen.“ Im Optimalfall, wenn die ART während der ganzen Schwangerschaft regelmäßig eingenommen wurde, könne man der Mutter das Stillen erlauben, die Übertragungsrate erhöhe sich dann lediglich um zwei bis drei Prozent (ohne Stillen: 0,5 - 1 %). Wichtig sei allerdings, die Frauen sorgfältig über die Risiken aufzuklären, den Zeitraum, in dem gestillt wird, auf maximal sechs Monate zu begrenzen und das Kind regelmäßig zu testen.
Zeichen einer unerkannten Infektion
Ein Antikörpertest auf HIV wie in der Erwachsenenmedizin ist bei Kindern unter zwei Jahren nicht sinnvoll, betonte Buchholz. Grund sei der Nestschutz, der in der Regel über 24 Monate persistiere: „Alle Kinder von HIV-positiven Müttern haben zunächst mütterliche HIV-Antikörper im Blut.“ Der Virusnachweis müsse daher genetisch mittels PCR erfolgen.
Rutscht eine HIV-positive Mutter durch die Maschen (was bei der in Deutschland üblichen einmaligen Testung zu Beginn der Schwangerschaft durchaus vorkommt), ist das Risiko hoch, dass die Infektion beim Kind nach der Geburt nicht auffällt. In zwei Drittel aller Fälle verlaufe eine unbehandelte HIV-Infektion zunächst relativ mild, erklärte Buchholz. Das Kind zeige dann oft erst im Kleinkindalter gehäuft Anginen oder Otitiden, nehme „jeden Infekt mit“ und unterscheide sich darin vielleicht gar nicht so sehr von anderen Kindern mit einer gewissen Abwehrschwäche.
Hellhörig werden sollte man dem Kinderarzt zufolge vor allem dann, wenn ein kleiner Patient trotz MMR-Impfung eine Parotitis entwickelt, Lymphknotenschwellungen außerhalb der Halsregion, etwa in Axilla oder Leiste, zeigt oder sich im Ultraschall eine vergrößerte Milz darstellt. Auch rezidivierende Pilzinfektionen oder ein Herpes Zoster im Kindesalter sollten an eine HIV-Infektion denken lassen.
Buchholz erinnert sich noch an die Zeit, als es für Kleinkinder keine geeigneten Therapiemöglichkeiten gab. Diese stehen erst ab etwa 1997 zur Verfügung. Damals sei ein Drittel der Kinder im ersten und ein weiteres Drittel bis zum fünften Lebensjahr gestorben.
Säuglinge, bei denen die Diagnose HIV nicht rechtzeitig gestellt wird, können aber auch heute noch schwer erkranken. Bei einem Drittel der unbehandelten Fälle kommt es innerhalb weniger Monate zu dramatischen Verläufen mit Pneumocystis-jirovecii-Pneumonie (PJP), Cytomegalie-Virus(CMV)-Infektion oder HIV-Enzephalopathie. Dies ist auch der Grund, warum die aktuelle S2k-Leitlinie zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit HIV fordert, bei allen HIV-positiven Kindern, auch Säuglingen, umgehend eine ART mit speziell für die Pädiatrie entwickelten Präparaten einzuleiten.
Aufklären oder abwarten?
In der Leitlinie wird auch empfohlen, HIV-infizierte Kinder generell in Abstimmung mit den Sorgeberechtigten über ihre Infektion aufzuklären. Dennoch entschließen sich Eltern und Behandler in den meisten Fällen, erst einmal damit zu warten – wohl wissend, dass diese Entscheidung heikel ist. Kinder haben in der Regel sehr gute Antennen dafür, dass man ihnen etwas verschweigt, und es belastet sie. Auf der anderen Seite hat Buchholz jedoch schon erlebt, was passieren kann, wenn das Kind beispielsweise in der Kita von seiner Infektion erzählt: „Da wurden schon Generalversammlungen einberufen, das Gesundheitsamt musste in den Kindergarten und die aufgeregten Eltern beruhigen.“
Die wenigsten wüssten, dass sich Kinder auch bei engerem Kontakt zu einem HIV-positiven Kind nicht infizieren können. „Sie können aus einem Becher trinken, mit einem Löffel essen, auf eine Toilette gehen, das ist überhaupt kein Problem“, stellte Buchholz klar. Trotzdem komme es immer wieder vor, dass Eltern wegen der bekannt gewordenen HIV-Infektion eines Kindes ihre Sprösslinge aus der Tagesstätte abmelden.
Was das für das betroffene Kind bedeutet, auch wenn es zum Beispiel nicht zum Geburtstag des besten Freundes eingeladen wird, kann man sich ausmalen. „Das Stigma besteht weiterhin“, sagte Buchholz, „deshalb klären wir die Kinder meistens erst ab zehn, zwölf Jahren auf, wenn sie wissen, wie man ein Geheimnis für sich behält“. In jedem Fall müsse der Zeitpunkt rechtzeitig vor der Pubertät gewählt werden, damit man die Heranwachsenden in dieser komplizierten Phase der Selbstfindung nicht noch zusätzlich belaste.
Dass die Zeit des Verschweigens gerade für kleine Kinder sehr bedrückend sein kann, steht für Bernd Buchholz außer Frage. Mehr als einmal hätten Kinder bei der Mitteilung der Diagnose gesagt: „Ich dachte schon, ich hätte Krebs.“ Die Ahnung, dass etwas Bedrohliches hinter den nicht beantworteten Fragen, dem „Abgewimmeltwerden“ durch die Eltern stecken könnte, beschäftigt die Kinder vor allem unterbewusst.
Quelle: Ärzte Zeitung