Mit TikTok zur früheren Cushing-Diagnose?

Menschen mit Cushing-Syndrom werden in Deutschland später als anderswo erkannt. Ob ein TikTok-Trend oder doch eher Künstliche Intelligenz zu einer schnelleren Diagnose führen? Die Antwort gibt ein Endokrinologe.

von Philipp Grätzel von Grätz
25.09.2024

Antike weibliche Skulptur aus Marmor mit Handy in der Hand
© Foto: Generiert mit KI / Magryt / stock.adobe.com
Anzeige

Stress macht Cortisol und das macht Gesichter rund – das ist, kurz gesagt, die Logik hinter dem Cortisol-Face- oder auch Cushing-Face-Trend, der seit einiger Zeit in sozialen Medien und insbesondere auf TikTok abgefeiert wird.

Aktueller Podcast

Wer über das Thema redet, der will in der Regel Produkte oder Dienstleistungen zum Stressabbau verkaufen. Medizinisch ist das Käse, die stressbedingten Cortisol-Ausschüttungen sind viel zu gering: „Alltagsstress führt nicht zum Cushing-Face, Gott sei Dank“, so Prof. Martin Reincke von der Endokrinologie der Ludwig Maximillian Universität München im Vorfeld der diesjährigen Hormonwoche.

Cushing-Diagnose: Deutschland braucht zwei Jahre länger

Reincke kann dem bizarren Hype zumindest insofern etwas abgewinnen, als er die Aufmerksamkeit auf ein Syndrom lenkt, bei dem Deutschland eindeutig Nachholbedarf hat: An dem seltenen „echten“ Cushing-Syndrom erkranken zwar nur drei bis acht Menschen pro eine Million Einwohner pro Jahr. Die aber sollten zügig identifiziert werden, sonst kann es rasch lebensbedrohlich werden.

„International dauert es im Median weniger als drei Jahre bis zur korrekten Diagnose. In Deutschland sind wir bei 4,5 bis fünf Jahren“, so Reincke bei einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie am 24. September.

Deutschland ist mit diesem Wert ein echter Ausreißer. Gründe für die Diagnoseverzögerung dürften Reincke zufolge die nicht optimale Vernetzung zwischen den Sektoren sowie die im internationalen Vergleich eher niedrige Zahl an Endokrinologen in Deutschland sein.

Immerhin gebe es mittlerweile spezielle Cushing-Ambulanzen und seit 2012 ein Cushing-Register, doch habe sich das noch nicht in früheren Diagnosen niedergeschlagen.

Ganzheitlicher Blick ist gefragt

Die Cushing-Diagnose ist klassische Innere Medizin: Nicht ein einzelnes Symptom ist wegweisend, vielmehr führt die Kombination aus mehreren typischen Symptomen und Befunden zum Diagnoseziel. Neue Störungen des Fett- und/oder Glukosestoffwechsels in Verbindung mit schneller Gewichtszunahme, besagtem runden Cushing-Gesicht und bläulich-streifenartigen Hautbefunden sind eine typische Konstellation.

Auch ein neuer oder sich verschlechternder Bluthochdruck und eine Veränderung der Körperzusammensetzung können Hinweise geben. Bei manchen Patienten verdickt sich der Hals, die Arme und Beine wirken vergleichsweise dünn, der Bauch tritt hervor. „Drei oder vier dieser Symptome sollten vorliegen für einen konkreten Verdacht auf ein Cushing-Syndrom“, betonte Reincke.

Hoffen (auch) auf Kollege Computer

Die Kommunikation dieser Symptomkonstellationen in die Primärversorgung, verbunden mit dem Appell, dann entweder einen Cortisol-Test zu initiieren oder an einen Endokrinologen zu überweisen – das ist kurzfristig die Strategie der Wahl für frühere Cushing-Diagnosen.

Mittelfristig könnte möglicherweise der Einsatz Künstlicher Intelligenz helfen, insbesondere auf Ebene der allgemeinen Labordiagnostik. So lassen sich im Labor Cushing-typische „Fingerabdrücke“ identifizieren, in die neben metabolischen Parametern unter anderem auch Leukozytose, hohe Hb-Werte, Eosinophilie und Lymphopenie eingehen. Mit Hilfe dieser und weitere Parameter könnten individuelle Cushing-Risiken berechnet und dem Arzt, der die Laboruntersuchung initiiert hat, kommuniziert werden. „Das ist im Moment aber noch Zukunftsmusik“, so Reincke.

Quelle: Ärzte Zeitung

Kommentar schreiben

Die Meinung und Diskussion unserer Nutzer ist ausdrücklich erwünscht. Bitte achten Sie im Sinne einer angenehmen Kommunikation auf unsere Netiquette. Vielen Dank!

Pflichtfeld *