Muttersprache prägt Babylaute
Für europäische Ohren klingen tonale Sprachen ungewohnt: Anders als beispielsweise im Deutschen, Französischen oder Englischen tragen bei ihnen auch die Tonhöhen, in denen Silben oder Wörter ausgesprochen werden, zur Bedeutung bei. Der scheinbar gleiche Laut kann demnach völlig unterschiedliche Dinge bezeichnen – je nachdem, ob er in einer hohen oder tiefen Tonlage oder mit einem besonderen Tonverlauf ausgesprochen wird.
Das Hochchinesisch oder Mandarin ist ein Beispiel für solch eine tonale Sprache. Die offizielle Amtssprache Chinas wird hauptsächlich in China, Taiwan und Singapur gesprochen – aktuell von gut einer Milliarde Menschen. Vier charakteristische Töne muss beherrschen, wer diese Sprache sprechen will.
Deutlich komplizierter ist Lamnso, die Sprache der Nso – einem Volk von geschätzt 280.000 Menschen, die in der Hauptsache im Nordwesten Kameruns in hochgelegenen Dörfern des Graslandes leben und dort Ackerbau betreiben. Die komplexe tonale Sprache kennt acht Töne, von denen etliche zusätzlich in ihrer Kontur variieren. Soll heißen: Wer Lamnso perfekt sprechen will, sollte nicht nur dazu in der Lage sein, die perfekten Töne zu treffen, sondern bei bestimmten Wörtern zusätzlich auch noch spezifische Tonhöhenverläufe einzubauen.
Wenn Schwangere solche komplexen tonalen Sprachen sprechen: Zeigt sich das im Weinen ihrer Neugeborenen? Diese Frage haben Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern in einem Projekt jetzt gemeinsam untersucht.
Das Ergebnis: „Das Weinen von Neugeborenen, deren Mütter eine tonale Sprache sprechen, zeigt eine deutlich stärkere melodische Variation, verglichen beispielsweise mit deutschen Neugeborenen“, sagt Professor Kathleen Wermke, Leiterin des Zentrums für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen des Universitätsklinikums Würzburg (Poliklinik für Kieferorthopädie) und Erstautorin der beiden Studien.
So war bei den Kindern der Nso in Kamerun nicht nur die „innerlautliche Gesamtvariation der Tonhöhe“, also der Abstand zwischen tiefstem und höchstem Ton, deutlich größer; auch das kurzzeitige Auf und Ab von Tönen während einer Lautäußerung fiel intensiver aus im Vergleich zu den Neugeborenen deutschsprachiger Mütter. „Ihr Weinen glich mehr einem Singsang“, beschreibt Wermke diesen Effekt. Ähnlich sahen die Ergebnisse bei den Neugeborenen aus Peking aus – allerdings etwas schwächer ausgeprägt.
Aus Sicht der Wissenschaftler spricht dieser Befund für eine Theorie, die sie auch schon bei Vergleichen von deutschen und französischen Neugeborenen bestätigt gesehen hatten: „Der Erwerb von Bausteinen für die spätere Sprache beginnt bereits gleich nach der Geburt; nicht erst, wenn Babys anfangen zu babbeln oder erste Wörter produzieren“, sagt die Wissenschaftlerin.
Nachdem sie während des letzten Drittels der Schwangerschaft hinreichend Gelegenheit hatten, im Bauch der Mutter ihre „Muttersprache“ kennen zu lernen, zeigen Neugeborene in ihrem Weinen charakteristische melodische Muster, die von der Umgebung – wie eben der Sprache der Mutter – beeinflusst sind, und das, noch bevor sie erste Laute gurren oder sich im sprachähnlichen „Silbenbabbeln“ ausprobieren.
Quelle: IDW