Nobelpreisträger zur Hausen: Krebs ist häufigste Zoonose des Menschen

Forscher um Nobelpreisträger Professor Harald zur Hausen vermuten, dass es sich bei vielen Krebs- und neurologischen Krankheiten um die Folge von Infektionen handelt. Einen großen Einfluss misst er auch BMMFs bei.

von Dr. Thomas Meißner
11.10.2021

Käse und ein Krug Milch auf einem Holztisch
© Foto: Thomas Francois / stock.adobe.com
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Bei vielen Krebsarten handelt es sich nach Überzeugung des Wissenschaftlers und Medizinnobelpreisträgers Professor Harald zur Hausen um die Folgen von Infektionen. Infektionen, die oft etwas mit unserer Ernährung zu tun haben und die über chronische Entzündungsreaktionen zu Karzinomen führen. Prostata-, Mamma- und Kolonkarzinome, die etwa ein Drittel aller Malignome darstellen, wären demnach Zoonosen.

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„Prostata-, Mamma- und Kolonkarzinome sind nach unserer Überzeugung Infektionskrankheiten mit einer jahrzehntelangen Latenz, bis schließlich Krebs auftritt“, sagte zur Hausen beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) in Stuttgart. Mit „uns“ meint er vor allem seine Frau und wissenschaftliche Mitstreiterin Professor Ethel-Michele de Villiers sowie die Arbeitsgruppe von Dr. Timo Bund am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg.

Humane Papilloviren und das Zervixkarzinom

Es war im Jahre 1976, als Harald zur Hausen seine Hypothese publizierte, wonach humane Papillomaviren (HPV) eine Rolle bei der Entstehung von Zervixkarzinomen spielen könnten – heute gibt es die präventive HPV-Impfung. Längst sind weitere Erreger identifiziert worden, die mit Latenzzeiten von etwa drei bis acht Jahren Krebserkrankungen verursachen, Retroviren zum Beispiel oder Ebstein-Barr-Viren (EBV), die endemisch Burkitt-Lymphome induzieren.

„Praktisch alle diese Erreger sind für sich alleine primär nicht krebserregend. Es müssen darüber hinaus immer bestimmte Veränderungen im Erbgut der Zellen stattfinden“, sagte zur Hausen. So spiele bei Hepatitis-B-Virus-Infektionen ein chemisches Kanzerogen eine wichtige Rolle in der Karzinogenese.

Von den direkt karzinogenen Erregern unterscheiden zur Hausen und de Villiers indirekt karzinogen wirkende Agenzien, die infektiös sind. Dabei handelt es sich weder um Viren noch um Bakterien oder Parasiten.

BMMF: Weit verbreitet und karzinogen?

Gemeint ist eine Gruppe weitverbreiteter Moleküle, die „Rinderfleisch- und Milchfaktoren“ (BMMF – bovine meat and milk factors) genannt werden. BMMFs lassen sich aus Rindfleisch- und Milchproben isolieren und können nach Meinung der Heidelberger Forscher maßgeblich mitverantwortlich sein für Karzinome der Brust, des Dickdarms und anderer Organe sowie für neurodegenerative Erkrankungen wie Multiple Sklerose (MS), Alzheimer-Demenz oder Morbus Parkinson.

Der Mensch erwirbt von Tieren, mit denen er zusammenlebt, Risikofaktoren wie BMMFs, zum Beispiel über den Verzehr von Fleisch und Milch. Die BMMFs lösen chronische Entzündungen aus, die nach Jahrzehnten die schweren Erkrankungen bewirken.

Der Verzehr von rotem Fleisch wird ja schon lange angeschuldigt, nur dachte man, dass im Zubereitungsprozess chemische Kanzerogene entstehen. Die DKFZ-Wissenschaftler aber fanden in Rindern aus Deutschland sowie in deren Milchprodukten einzelsträngige DNA-Partikel – plasmidähnliche Partikel, die bioaktiv sind.

In den meisten Fällen beseitigt das Immunsystem solche Moleküle aus dem Gewebe, im Blut finden sich BMMF-spezifische Antikörper. Bei manchen Menschen sind sie aber anhaltend präsent und können die mutationsbedingte Tumorgenese anstoßen. BMMF-Proteine zeigen in menschlichen Zellen Replikation, Transkription und Proteintranslationen und induzieren Veränderungen im Transkriptom des Wirts.

Schutzfaktor langes Stillen?

Interessanterweise reduziert langes Stillen (≥12 Monate) das Risiko für akute und chronische Erkrankungen. Frauen, die drei Kinder und mehr geboren und diese lange gestillt haben, erkranken seltener ans Brust-, Kolon-, Lungen- und Ovarialkarzinomen.

MS und Typ-2-Diabetes sind ebenfalls seltener. Verantwortlich dafür sind nach zur Hausens Angaben milchspezifische Oligosaccharide des Menschen (HMO). Sie blockieren dieselben Rezeptoren, wie sie für die infektiösen, krebsinduzierenden Agenzien notwendig sind. Tatsächlich sind in Ländern, in denen sehr langes Stillen der Neugeborenen üblich ist, die Darm- und Brustkrebsinzidenzen am niedrigsten, hoch sind sie in Ländern mit niedrigen Stillraten.

In einer schwedischen Kohortenstudie hatten Laktose-intolerante Personen, die selten Milch und Milchprodukte verzehren, 21 Prozent seltener Brustkrebs, 39 Prozent seltener Ovarialkarzinome und 45 Prozent seltener Lungenkrebs als Laktose-tolerante Geschwister und Eltern.

Neu5Gc und Sauerstoffradikale

Der zweite wichtige Punkt ist, dass tierische Fleisch- und Milchprodukte hohe Konzentrationen des Moleküls Neu5Gc (N-Glycolylneuraminsäure) enthalten. Der Mensch ist nicht in der Lage, Neu5Gc zu bilden. Neu5Gc kann aber in die Wand menschlicher Zellen eingebaut werden und macht diese Zellen empfindlich für eine Reihe von Infektionen, gegen die wir sonst resistent sind.

Die Heidelberger Arbeitsgruppe konnte bei mindestens 80 Prozent der von ihnen untersuchten „normalen“ Gewebeproben von Darmkrebspatienten entsprechende Strukturen nachweisen. „Ähnliche Strukturen finden sich in der Prostata und in der Brust“, erklärte zur Hausen. „Sie liegen stets außerhalb der eigentlichen Drüsenzellen und sind begrenzt auf das Interstitium, wo sie chronische Entzündungen erzeugen.“

Die Inflammation geht mit der Bildung aggressiver Sauerstoffradikale einher. Dies führt lokal zu Veränderungen des Genoms.

Prävention ab dem Abstillen

„Prävention müsste also früh im Leben starten!“, so der Wissenschaftler. Früh heißt: zum Zeitpunkt des Abstillens – eine bedeutsame Information, besonders für Kinderärzte.

Vorstellbar sei, die erwähnten HMO in Formulanahrungen zu geben, wie sie Säuglingen gegeben werden. Denkbar ist auch, die Kuhmilch von BMMFs zu reinigen, neutralisierende Vakzinen zu entwickeln oder Neu5Gc-negative Rinder zu züchten.

Der Aufwand wäre sicher sehr hoch. Andererseits könnte der Lohn dafür nicht nur die Prävention vieler Krebsarten sein, sondern auch von chronischen neurologischen und metabolischen Erkrankungen. Noch aber sind nicht alle Einflüsse und Faktoren identifiziert, die die Verbindung ernährungsbedingter Infektionen und der Krebsentstehung erklären.

Quelle: Ärzte Zeitung

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