Polioviren in Abwasserproben
Betroffen sind Abwasserproben aus Kläranlagen in Dresden, Düsseldorf und Mainz, die in den Kalenderwochen 46 und 47 untersucht wurden. Bereits zuvor waren genetisch ähnliche Viren in Proben aus München, Bonn, Köln und Hamburg festgestellt worden.
Importierte Viren
Die gefundenen Erreger sind keine Wildtyp-Polioviren, sondern gehen auf Schluckimpfungen zurück. In Deutschland wird seit 1998 kein Schluckimpfstoff mit einem abgeschwächten, lebenden Virus mehr verwendet, sondern ein inaktivierter Impfstoff. Daher wird vermutet, dass die nun im Abwasser entdeckten Viren von Personen, die eine Schluckimpfung erhalten hatten, importiert wurden.
Derlei Impfpolioviren können ähnlich wie Wildtyp-Polioviren bei Ungeimpften in seltenen Fällen Lähmungen verursachen (Poliomyelitis). Diese entstehen vor allem, wenn das abgeschwächte Impfvirus über einen längeren Zeitraum in Gemeinschaften mit niedrigen Impfraten zirkuliert und dort mutiert.
Die Nachweise in mehreren deutschen Städten deuten auf eine Zirkulation dieser eingeschleppten Impfviren hin. Ähnliche Nachweise gab es kürzlich auch in anderen europäischen Ländern wie Spanien (Barcelona) und Polen (Warschau).
Impfstatus überprüfen
Auf die Frage, ob es denkbar ist, dass durch den Eintrag solcher Impfpolioviren erneut vermehrt Impfpoliofälle auftreten werden, antwortete PD Dr. Rainer Gosert, Fachverantwortlicher für die molekulare Diagnostik der klinischen Virologie (WHO-Stützpunkt für Poliomyelitis), Universitätsspital Basel, Schweiz: „Dies ist relativ unwahrscheinlich, da die Impfquote in Deutschland für drei Impfstoffdosen im Alter von 15 Monaten bei gut 90 Prozent liegt, allerdings gibt es deutliche Schwankungen zwischen den Bundesländern. Eine Impfquote von mehr als 95 Prozent kann eine Ausbreitung des Virus und somit größere Ausbrüche verhindern. Es wäre sicherlich gut, wenn die Bevölkerung den Nachweis von Poliovirus-Genomabschnitten im Abwasser zum Anlass nimmt, den Impfstatus zu überprüfen.“
Geringes Risiko
Auch Prof. Dr. Roman Wölfel, Oberstarzt und Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr, München, hält das Risiko, dass sich Impfpolioviren in gefährliche Viren zurück verwandeln, für gering. Er merkt an, dass in den vergangenen Jahrzehnten auf der ganzen Welt Milliarden von Dosen des oralen Polio-Lebendimpfstoffs (OPV, „Schluckimpfung“) ausgegeben und damit Millionen Fälle von Kinderlähmung vermieden wurden. Sehr selten sei es zu Ausbrüchen von Impfpolio mit insgesamt bislang wenigen tausend Fällen weltweit gekommen.
Zur Sicherheit wechselt man aber von OPV auf inaktivierte Polio-Vakzine (IPV, Totimpfstoff), sobald aufgrund einer besseren Immunität in der Bevölkerung kaum noch echte Poliofälle auftreten. „In Deutschland verwenden wir deshalb seit vielen Jahren auch nur noch den inaktivierten Polioimpfstoff. Dessen Impfschutz schützt auch gegen eine Impfpolio durch mutierte OPV.“
Quelle: Science Media Center Deutschland