Prokrastination hat viele Gesichter

„Morgen, morgen, nur nicht heute …“, weiß der Volksmund. Stimmt der Spruch überhaupt? Sind Menschen, die ihre Aufgaben verschieben, später erledigen oder sich nicht aufraffen können, wirklich faul? Stecken nicht vielleicht Unsicherheit, Angst, falsche Ziele oder ganz einfach Überlastung dahinter? Wir gehen dem Problem der Prokrastination auf den Grund und zeigen Auswege.

von Nina Konopinski-Klein
11.02.2019

To do auf einem Zettel
© Foto: DOC RABE Media / stock.adobe.com
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Fallbeschreibung

Die Mitarbeiterinnen der Pelikan-Apotheke staunen. Zum ersten Mal sehen sie ihre Chefin, Frau Schneider, so aufgebracht. Sie schimpft über ihre Mitarbeiterin Anja und kann sich nicht beruhigen. Die Gründe der Aufregung sind mehrere: wiederholt nicht erledigte Aufgaben, wie aufgeschobene Bestellungen, Anfragen der Kunden, Reklamationen, das Auffüllen der Schubladen mit Streuartikeln und die Abrechnung von Rezepten.

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Wenn die Aufgaben von Anja erledigt wurden, war jedoch alles korrekt und richtig. Also: Wo ist das Problem? Warum macht Anja nicht, was sie machen soll, kümmert sich aber dafür um Aufgaben, die gar nicht wichtig sind bzw. später erledigt werden könnten.

Anja, der Kritik ausgesetzt, steht da mit Tränen im Gesicht und versucht, sich zu rechtfertigen. Mehrmals betont sie, wie sehr sie sich stets bemühe, aber trotzdem die anstehenden Aufgaben nicht immer rechtzeitig schaffen könne. Die Reue und die Tränen besänftigen Frau Schneider, und sie überlegt, ob die Mitarbeiterin vielleicht doch überfordert ist. Schließlich studiert Anja nebenbei und hat demnächst einige Prüfungen zu bestehen.

Allerdings bringt die Frage nach der letzten Prüfung ein ähnliches Bild: Anja ist durch die Prüfung gerasselt. Auch hier versucht sie eine Erklärung: Sie hätte die Prüfung verschieben sollen, da die Menge des Lernstoffs zu viel war und sie nicht die erforderliche Kraft dafür hatte. Während der Teambesprechung diskutiert Apothekerin Schneider die Situation, und aus den Schilderungen der anderen Mitarbeiter ergibt sich für Anja ein Verhaltensbild, das typisch ist für Prokrastination.

Ursachenforschung

Das Verhaltensbild, das in der Umgangssprache Verschieberitis oder alltägliches Trödeln und in der Psychologie Aufschiebeverhalten genannt wird, kennt jeder. Gelegentliches Aufschieben ist normal und manchmal ist es sogar vorteilhaft, eine Nacht darüber zu schlafen und erst später eine wichtige Entscheidung zu treffen.

Es gibt allerdings auch Menschen, die immer alle Vorhaben vor sich herschieben und nie anfangen können. Typische Äußerungen dabei sind:

„Es hat doch Zeit.“
„Morgen kann ich das auch machen.“
„Es gibt Wichtigeres zu tun.“
„Das kann ich nicht sofort entscheiden.“
„Ich warte, bis ich in Stimmung bin.“
„Ich arbeite sowieso besser unter Druck.“

Auch gewisse Situationen können jemanden dazu bringen, mit entsprechenden Begründungen etwas nicht sofort zu tun:

„So viele Aufgaben, da weiß ich ja gar nicht, wo ich anfangen soll.“
„Alle wollen was von mir, wann soll ich das machen?“
„Was soll zuerst getan werden?“
„Muss das wirklich sofort sein?“

Die Ursachen und die Art der Ausprägung von ständigem Aufschieben sind individuell sehr verschieden und können manchmal wirklich schlimme Folgen haben (finanziell: nicht bezahlte Rechnungen, gesundheitlich: nicht wahrgenommene Vorsorgeuntersuchung oder sozial: nicht eingehaltene Termine und Absprachen).

Die vier Formen der Prokrastination

Das Thema Aufschieben wird von vielen Psychologen untersucht, wie zum Beispiel von Hans-Werner Rückert (2000), der vier Formen der Prokrastination unterscheidet:

Alltägliches Aufschieben

Eine verbreitete Form, die schon jedem von uns passierte: Es wird zuerst die angenehme Aufgabe ausgeführt (in der Offizin z. B. Gespräche mit Kunden oder Kollegen), die so viel Zeit in Anspruch nehmen, dass andere weniger angenehme Aufgaben, die es natürlich auch gibt, nicht bzw. nicht rechtzeitig durchgeführt werden können (Einräumen gelieferter Artikel in Schubladen und Regale, Kontrolle von Verfallsdaten, Entsorgung leerer Verpackungen, Telefonate mit Lieferanten und vieles mehr). Ohne ausführliche Erklärungen und Klagen lassen sich die daraus entstehenden Verzögerungen zumeist schnell korrigieren (Delegation, schnelleres Arbeiten, weniger Prioritäten), wenn man nur will.

Problematisches Aufschieben

Diese Art des Aufschiebens ist keine gelegentliche oder spontane Entscheidung, etwas später zu erledigen, sondern ein häufiges Verhalten.

Es gibt Menschen, die dieses Aufschieben auf alle oder viele Bereiche des Lebens ausdehnen und andere, die nur bestimmte Situationen hinauszögern. Zahnarztbesuch, Telefonat mit der Schwiegermutter , Steuererklärung sind nur einige Beispiele. Das Aufschieben wird vor sich selbst gerechtfertigt und bereitet keine großen Sorgen, solange unsere Mitmenschen nicht darunter leiden.

Hartes Aufschieben

Hier wird das Aufschieben zum Problem. Menschen, die ihre Aufgaben nicht rechtzeitig oder gar nicht erfüllen, werden darunter leiden. Dieses gewohnheitsmäßige Nicht-Erledigen oder Später-Erledigen von Aufgaben hat negative Auswirkungen auf das Berufs-und Privatleben. Ständiges Zuspätkommen, nicht eingehaltene Versprechen oder nicht erledigte Aufgaben werden mit der Zeit als Respektlosigkeit, Unzuverlässigkeit und Unfähigkeit angesehen.

Das Vertrauen in der Berufswelt, von Freunden und selbst der Familie geht verloren und kann der betroffenen Person den Job, Freunde, Familie und die Gesundheit kosten. Wiederholte Wünsche und Vorsätze, sich ändern zu wollen und die Unzufriedenheit aus dem Nichterreichen dieser Ziele schwächen und verschlechtern das Selbstwertgefühl. Es fängt ein Leidensweg an.

Blockade

Blockade ist die Handlungsunfähigkeit, die unter anderem durch emotionale Faktoren (beispielsweise Angst oder Unsicherheit) oder kognitive Faktoren wie Perfektionismus entstehen kann. Hier wird eine bestimmte Aufgabe überhaupt nicht ausgeführt.

Wenn bei einer immer wieder verschobenen Prüfung Angst entsteht, die die Person in der Prüfungssituation lähmt, oder ein Berufsanfänger nach ersten schlechten Erfahrungen bei Gesprächen mit schwierigen Kunden keine Kundengespräche mehr führen will und versucht alle anderen Aufgaben zu übernehmen.

Was kann man dagegen tun?

Am wichtigsten ist es, diese Verhaltenstendenz zu erkennen und zu analysieren. Erst wenn die Ursachen erkannt sind, kann entgegengewirkt werden.

Disziplin und Ordnung

Schaffen Sie einen Überblick über alles. Analysieren Sie Situationen, die Sie meiden bzw. oft verschieben. Fragen Sie sich, was ist der Grund? Wie wichtig sind diese Situationen? Welche Konsequenzen bringt das Aufschieben für Sie und für Ihre Umgebung? Wie wollen Sie dagegen vorgehen?

Konzentrieren Sie sich auf Ihre Aufgabe.

Fangen Sie innerhalb von drei Tagen nach der Entscheidung mit den vorgesehenen Aufgaben an, sonst werden diese meist vergessen. Ordnen Sie Ihre Umgebung – ein ordentlicher Arbeitsplatz, sortierte Mails, aufgeräumte Dokumente und To-do-Listen sind geeignete Maßnahmen zur Selbstorganisation. Sie erleichtern den Einstieg in die Aufgabe und verkürzen die Ausführung.

Zeitmanagement und Techniken

Ziele definieren, konkretisieren und begründen: Schreiben Sie am Vorabend eine Liste mit den Aufgaben für den nächsten Tag. Listen Sie alles auf, was zu erledigen ist (auch Blumen gießen, Zeit für Mahlzeiten, Spazieren gehen).

Zeit analysieren und Vorgehen strukturieren

Denken Sie daran: der Tag hat 24 Stunden:

  • acht Stunden Schlaf
  • zwei Stunden Körperpflege (incl. Toilettengänge)
  • drei Stunden Mahlzeiten
  • neun Stunden Arbeit (incl. Anreise)

= es bleiben zwei Stunden für sonstige Tätigkeiten, die bei längerer Dauer nur auf Kosten der oberen Tätigkeiten ausgeführt werden können

Pausen einplanen und einhalten

„Sitzen ist das neue Rauchen“ lautet der Titel eines Ratgeberbuchs über die Gesundheitsrisiken vom Arbeiten am PC. Stehen Sie deshalb jede halbe Stunde kurz auf, und gehen Sie ein paar Schritte. Arbeiten sie nicht durchgehend über mehrere Stunden. Eine kurze Pause bringt neue Energie, Ideen und Kraft.

Prioritäten setzen

Wenn Sie die geplanten Tätigkeiten aufgelistet haben, setzen Sie daneben Prioritäten und entscheiden Sie, in welcher Reihenfolge diese erledigt werden sollen. Eine unangenehme Aufgabe zuerst erledigt, schafft Erleichterung und Motivation für den Rest des Tages. E-Mails können Sie nur zu bestimmten Zeiten lesen und danach den Account zum Beispiel für eine Stunde abschalten. Das gleiche gilt für WhatsApp, SMS und Anrufe. So können Sie sich auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren, ohne durch neue hinzukommende Anfragen oder Aufgaben abgelenkt zu werden.

Teilen Sie große, wichtige Aufgaben in kleine Ziele. Diese Taktik lässt die Aufgabe kleiner erscheinen und überwältigt den Ausführenden nicht.

Beispiel

Umwandeln einer Kundendatei in ein neues System – die zur Verfügung stehende Zeit beträgt nur zwei Stunden pro Tag:

  1. Aufgaben und die gewünschten Änderungen auflisten
  2. Gesamtaufgabe in kleine Bereiche aufteilen (zuerst nach Kundenname beginnend mit A, B…, oder Kundennummer von bis… sortieren und umwandeln; dann zusätzliche Informationen eintragen; Aktualisieren der persönlichen Daten)
  3. erste Schritte durchführen (ca. 20 Prozent der Aufgabe)
  4. kontrollieren, ob die Vorgehensweise richtig gewählt wurde und evtl. Korrektur
  5. Aufgabe vervollständigen.

Einbinden der Umgebung

Geben Sie Ihre Ziele und Aufgaben bekannt und suchen Sie Unterstützung im Team oder bei Freunden und Familie. Erlauben Sie Ihrer Umgebung, Sie dabei zu ermutigen und an die Ziele zu erinnern.

Wenn Sie erkennen, welche Gründe für Ihr Aufschiebeverhalten verantwortlich sind, suchen Sie Situationen, die dieses verhindern (neue Aufgabenzuteilung, Verantwortlichkeiten, Delegation).

Wenn Sie einen Prokrastinierer unterstützen, denken Sie daran: Aufschieber sind Meister der Ausrede. Wenn Sie einen Grund für ein Nichterledigen einer Aufgabe hören, fragen Sie sich, ob dieser wahr sein kann; seien Sie aber nicht grundsätzlich misstrauisch.

Lassen Sie Aussagen wie: „Ich bin bzw. er/sie ist eben so“ nicht gelten. Erwachsene Menschen können ihr Verhalten beeinflussen oder ändern. Ein Team ist von allen Mitgliedern abhängig und so effizient wie das schwächste Mitglied. Wenn die Gruppenmitglieder untereinander die Stärken und Schwächen des Teams kennen, können sie diese in die Planung einbeziehen und dadurch besser die gemeinsamen Aufgaben bewältigen.

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