Kältespezialisten: Auf Wintertour
Bei meiner Ankündigung, so spät im Jahr noch eine Kräutertour zu veranstalten, stoße ich zunächst auf Skepsis. Einige der Teilnehmer, die am frühen Nachmittag am verabredeten Parkplatz eintreffen, tragen ihre Neugierde offen zur Schau, denn der Plan ist, im Anschluss selbstgesammelte und zubereitete Köstlichkeiten zu verzehren. Muss ja keiner wissen, dass ich heimlich drei Kreuze gemacht habe, weil uns das frostige Wetter keinen Schneefall beschert hat.
Vogelmiere
Doch selbst im Schnee hätte ich diese Tour durchgeführt, um die echte Heldin dieser Jahreszeit vorzustellen. Für mich ist das die Vogelmiere, Stellaria media, denn sie schafft es, noch unter dem Schutz einer Schneedecke zu blühen und sich per Selbstbestäubung fortzupflanzen. Bis zu vier Generationen bringt die Pflanze im Jahr hervor, die bereits vier Wochen nach dem Keimen blühen und jeweils nach der Samenreifung innerhalb derselben Vegetationsperiode absterben.
Das zarte Kraut besitzt neben den weißen Sternchenblüten eine einzelne Haarleiste, die den Stiel entlang wächst und als wichtiges Erkennungsmerkmal dient. Das Kraut enthält Saponine und wird in der Volksmedizin bei Lungenerkrankungen eingesetzt. Wir pflücken es für den Salat, lassen aber ausreichende Mengen stehen, um den Standort nicht zu erschöpfen.
Giersch
Diesen Gedanken müssen wir uns beim Giersch nicht machen, denn die vermehrungsfreudige Pflanze gilt allgemein als Unkraut. Dabei hält das unbändige Wachstum von Aegopodium podagra den Boden schön locker und feucht, weshalb ich die allgemeine Abneigung vieler Gärtner gegen diese Pflanze nicht nachvollziehen kann. Wem sie im Garten zu viel ist, der sollte sie einfach aufessen. Als Spinat, im Salat, in Knödeln oder als Wickelmaterial für Reisröllchen – die kulinarischen Einsatzmöglichkeiten sind wirklich vielfältig.
Zudem ist die Pflanze äußerst gesund. Sie sorgt für einen ausgeglichenen Säure-Basen-Haushalt und wird volksmedizinisch bei Gicht eingesetzt. Das besagt auch ihr Name: Podagra ist ein veralteter Ausdruck für die Gicht, die umgangssprachlich auch Geißfuß genannt wurde. Und nichts anderes bedeutet die Bezeichnung Aegopodium.
Beim Sammeln nehmen wir möglichst jüngere Blätter und achten dabei auf den dreikantigen Stängel. Wer sich dennoch unsicher ist, die richtige Pflanze zu zupfen, dem empfehle ich, die Blätter zwischen den Fingern zu zerreiben und auf den Duft zu achten, der an Sellerie, Petersilie oder Möhren erinnert, die alle wie der Giersch zur Familie der Doldenblütler gehören.
Brennnessel
Bei der Brennnessel braucht es hingegen keine Erläuterung der Erkennungsmerkmale. Jeder hat als Kind die Bekanntschaft mit ihren Brennhaaren gemacht. Zum Glück kann man diese vor der kulinarischen Verwendung ganz einfach ausschalten, indem man das gesammelte Material entweder in einem Tuch kräftig auswringt, auf einem Brett mit dem Nudelholz bearbeitet oder mit heißem Wasser wenige Minuten blanchiert. Da die grünen Blätter auch im Winter mit ihrem Gehalt an Mineralstoffen und Vitamin C noch eine wahre Nährstoffbombe sind, sammeln wir eine großzügige Portion für die Vorspeise: frittierte Brennnesseln mit in Speck gebratenem Schafskäse.
Die meisten meiner Teilnehmer kennen Brennnesselblätter als harntreibendes Mittel zur Durchspülung der Nieren und bei prostatabedingten Miktionsbeschwerden. Weniger bekannt ist ihre Verwendung als Faserpflanze, aus der man vor über hundert Jahren noch das „Leinen der armen Leute“ fertigte. An die mühselige Arbeit erinnert auch das Märchen „Die Wilden Schwäne“ von Hans-Christian Andersen. Es erzählt die Geschichte von Prinzessin Elisa, die ihren elf in Schwäne verwandelten Brüdern schweigend Brennnesselhemden anfertigen muss, um den Zauber ihrer bösen Stiefmutter aufzuheben.
Schlehe
An das Märchen Dornröschen hingegen erinnert uns die undurchdringliche Schlehenhecke am Ortsrand. Sie schützt nicht nur das Dorf vor dem Eindringen wilder Tiere und den dahinter gelegenen Acker vor Erosion, sondern auch die zahlreichen Vögel, die im Jahresverlauf in den Zweigen nisten. Ihr dorniger Charakter spiegelt sich im volkstümlichen Namen Schwarzdorn und in der botanischen Bezeichnung Prunus spinosa (spinosa = lat.: für dornig) wider.
Die Blüten der Schlehe erscheinen nach dem Winter nach einer kurzen Wärmeperiode. Kaum sind sie aufgeblüht, kommt meist über Nacht ein heftiger Kälteeinbruch, der bei uns Schlehenwinter genannt wird. Schlehdornblüten sind bei Erkältungskrankheiten im Einsatz, aber auch bei Magenkrämpfen, Blähungen, Nieren- und Blasenleiden.
Mit den Früchten lässt sich die Schlehe den ganzen Sommer über Zeit. Erst im Herbst erscheinen sie und sind extrem sauer, wobei sie im Rohzustand ein pelziges Gefühl auf der Zunge hinterlassen. Dies ist den Gerbstoffen geschuldet. Sie üben eine adstringierende Wirkung aus, weshalb sich die Früchte gut als Gurgelmittel eignen, bei oberflächlichen, entzündeten Wunden oder gegen Durchfall.
Zum Verzehr werden die kugeligen Steinfrüchte erst nach dem Frost geerntet oder in die Tiefkühltruhe gelegt, um den Gerbstoffgehalt zu senken. Man kann aus ihnen eine fruchtige Bratensoße zubereiten oder – mein Favorit – sie mit Zucker und Schnaps zu einem köstlichen Schlehenlikör aufsetzen.
Brombeere
Ebenfalls ein guter Gerbstofflieferant sind die Blätter der Brombeere, Rubus vulgaris, deren dornige Ranken uns davon abhalten, die Windbruchstellen im Wald zu betreten. Der Schutz von Neupflanzen ist eine wichtige Funktion der wuchernden Pionierpflanze. Zugleich bietet sie Vögeln einen geschützten Rückzugsort, der das Futter gleich bereithält in Form winziger Steinfrüchtchen, die eine „Beere“ formen. Diese lassen sich gut im Herbst sammeln und trocknen, um den ganzen Winter über das Müsli zu bereichern. Aktuell sammeln wir nur ein paar der helleren Blätter, um sie in einen Smoothie zu geben.
Fingerhut
Nicht alle Pflanzen auf unserer heutigen Tour sollten im Kochtopf landen. Gerade die saftig grünen Rosetten des Roten Fingerhuts, Digitalis purpurea, scheinen jedoch geradewegs dazu einzuladen. Deshalb schützen sie sich vor Wildfraß mit einem hohen Gehalt an giftigen Herzglykosiden. Als Monosubstanzen extrahiert, können die Digitalisglykoside wegen ihrer geringen therapeutischen Breite fein dosiert bei Herzinsuffizienz eingesetzt werden. Von selbstgemachten Extrakten lässt man jedoch besser die Finger.
Trockenheit und Borkenkäferbefall haben in unserer Region große Waldflächen verkahlen lassen. Doch die Natur kehrt zurück, und so hat der Fingerhut im letzten Sommer ein Meer aus violetten Blütenkerzen auf diese Flächen gezaubert. Als „Einkriechblumen“ sind die Blüten vor allem auf Hummeln spezialisiert. Jede Pflanze trägt 50 bis 100 Blüten, die Kapseln mit zahlreichen Samenkörnchen hervorbringen, die sich leicht als Ballonflieger ausbreiten. Auf diese Weise sind die Samen quasi auf jedem Fleckchen Waldboden zu finden und dienen als eine Art Lebensversicherung. Denn sobald eine Waldfläche frei wird, egal ob durch Abholzung oder Windbruch, fällt Licht auf den Boden und lässt die frei liegenden Samen keimen.
Im ersten Jahr entwickelt sich der Keimling zu einer großen Blattrosette, die den Boden abdeckt und ihn vor Erosion schützt. Selbst in steileren Schräglagen funktioniert das ähnlich wie ein Pflaster, was wir bei der hiesigen Hanglage direkt nachvollziehen können. In Anbetracht ihres Nutzens und der hohen Giftigkeit lassen wir die Blattrosetten stehen und sammeln stattdessen noch ein wenig Waldsauerklee, Kriechenden Günsel und Ehrenpreis, um mit ihnen im Anschluss an unsere Wintertour den Salat zu verfeinern.
Petra Schicketanz ist Apothekerin und Heilpraktikerin und führt regelmäßig Pflanzenwanderungen in ihrer Heimatregion, dem südhessischen Taunus, durch.